Goethes Wetzlarer
Verwandtschaft
Robert Sommer
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FROM THE BEQUEST OF
HUGO REISINGER
OF NEW YORK
For the purchase of German books
Goethes
Wetzlarer Verwandtschaft
Von
Robert Sommer
Dr. med. et phil.
o. Professor an der Universität Gießen
Mit 8 Abbildungen
LEIPZIG
Verlag von Johann Ambrosius Barth
3,J)T
HUGO REISIN6EP FUND
Spamersche Buchdruckerei in Leipzig.
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Die Lehre vom Genie steht größtenteils noch
unter der Nachwirkung der Ideen, die darüber am
Ende des 18. Jahrhunderts besonders im Hinblick
auf die schöpferische Tätigkeit Goethes ausgebildet
worden sind. Das Genie erscheint dabei als eine
aus der Tiefe der Seele hervorquellende, unwillkür-
liche Schöpfertätigkeit, deren Entstehung und eigent-
liche Natur nicht weiter erklärt werden kann. Aus
dieser grundlegenden Anschauung ist die fast religiös
zu nennende Verehrung des Genies, die sich bei
einer Reihe von sehr bedeutenden Denkern und
Schriftstellern des vergangenen und gegenwärtigen
Jahrhunderts findet, entstanden.
Dieser Auffassung erscheint es beinahe als ein
Sakrileg oder als rationalistische Torheit, wenn in
neuerer Zeit auf der Grundlage der beobachtenden
Psychologie und Psychopathologie, sowie einer natur-
wissenschaftlich vorgehenden Familienforschung ver-
sucht wird, auch die Erscheinung des Genies vom
Gesichtspunkte einer genetischen Psychophysiologie
zu betrachten, und soweit als möglich im Zusammen-
hang mit der Analyse der angeborenen Anlage zu
erklären. Allerdings sind solche Versuche mehrfach
unter völlig ungenügenden Voraussetzungen und bei
starkem Mangel an methodischen Hilfsmitteln ge-
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schehen, so daß ein Mißerfolg vielfach nicht aus-
bleiben konnte.
Will man das Problem ernsthaft in Angriff
nehmen, so bedarf es im allgemeinen eines genauen
Studiums der angeborenen Anlage in den drei
großen Teilgebieten der empirischen Seelenlehre,
nämlich der Individualpsychologie des normalen
Menschen, der Psychopathologie und, wie immer
mehr zutage kommt, auch der Kriminalpsychologie
auf dem Boden einer methodischen Familienfor-
schung.
Umgekehrt erscheint für diese weitere Aufgabe
gerade die Untersuchung der ganzen Beschaffenheit
genialer Menschen im Hinblick auf die sonstigen
in ihrer Blutsverwandtschaft vorhandenen Talente
und Charaktereigenschaften als wichtiges Hilfsmittel.
In dieser Hinsicht muß Goethe selbst, durch dessen
geistige Beschaffenheit die Lehre vom Genie wesent-
liche Beeinflussung erfahren hat, das größte Interesse
erregen.
Eine genaue Analyse von Goethes Natur mit
den Hilfsmitteln der neueren Psychologie, soweit sie
sich retrospektiv anwenden lassen, sowie der neueren
Art der Familienforschung besteht meines Wissens
trotz der außerordentlich umfangreichen Goethe-
literatur noch nicht und kann nur allmählich durch
systematische Behandlung einer Reihe von noch
nicht aufgeklärten Punkten geschaffen werden.
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Dabei ist vom Standpunkt der Familienforschung
zunächst zu verlangen, daß die weiblichen Elemente
in der Ascendenz, deren Anlagen erfahrungsgemäß
den Typus des männlichen Stammes stark zu be-
einflussen und gerade nach der genialen Seite hin
zu entwickeln imstande sind, viel genauer behandelt
werden, als es bisher bei dem Studium der Ver-
erbung und des Familiencharakters zu geschehen
pflegt. Aus einer großen Summe von Aufgaben
möchte ich im folgenden als einen wesentlichen
Punkt die Abstammung von Goethes Mutter, der
Frau Rat, hervorheben, deren bedeutungsvoller Ein-
fluß auf seine Anlage von Goethe selbst stark be-
tont worden ist.
„Vom Vater hab’ ich die Statur, des Lebens
ernstes Führen, von Mütterchen die Frohnatur und
Lust zu fabulieren.“
Goethe hat in dem letzteren Worte eine kurze
Formel geprägt für eine geistige Eigenschaft, die
in der Tat bei seinen genialen Leistungen eine
außerordentliche Rolle gespielt hat und bei ihm
schon in der Kindheit sehr deutlich und scharf zu-
tage tritt, nämlich die phantastische Weiter-
bildung von äußeren Eindrücken, die von ihm
mit größter sinnlicher Lebhaftigkeit erfaßt
werden. Aus einer einzelnen zufälligen Situation
erwächst ihm eine große Menge von märchenhaften
und phantasievollen Vorstellungen, die meist erst
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hinterher geordnet, zum Teil ausgeschaltet, zum
Teil ergänzt werden, bis daraus ein wohlgefügtes
Kunstwerk entsteht. Seine Werke entspringen durch-
aus nicht, wie die verbreitete Genielehre öfter noch
annimmt, fertig wie die Athene aus dem Kopfe des
Zeus, sondern sind das Resultat einer nachträglichen
abwägenden und ordnenden geistigen Arbeit, die an
dem mannigfachen und anfänglich oft verworrenen
Stoffe einer blitzartig aufgetauchten Phantasiewelt
vorgenommen wird. Dabei ist ohne diese phan-
tastische Weiterbildung mit plastischer Deutlichkeit
erfaßter Eindrücke seine Art von Kunstschöpfungen
undenkbar, und wenn Goethe mit seiner obigen Be-
hauptung recht hat, so hat er gerade diese ele-
mentare impulsive Phantasietätigkeit von
seiner Mutter geerbt, während der Ableitung der
ordnenden Verstandesarbeit aus dem Stammcharak-
ter des Vaters nichts entgegensteht. — Will man
daher das Genie Goethes naturwissenschaftlich
untersuchen, so wird man in erster Linie die ange-
borene Anlage und die Abstammung der Mutter
betrachten müssen.
Diese letztere war eine geborene Textor, und
gleicht ihrem Vater, dem Schultheißen Textor in
Frankfurt, in körperlicher Beziehung, besonders in
bezug auf die Form des Gesichtes und des Kopfes,
in ausgeprägter Weise, wovon man sich bei der
Betrachtung der im Goethemuseum in Frankfurt a. M.
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vorhandenen Bilder leicht überzeugen kann. Vom
Standpunkte der Familienforschung fragt es sich
nun, ob die Lust zu fabulieren bei Goethes
Mutter auf deren Vater Textor oder auf ihre Mutter
Fig. 1. Frau Rat Goethe.
zurückzuführen ist. Letztere Frau, d. h. also Goethes
Großmutter mütterlicherseits, war eine geborene
Lindheimer aus Wetzlar. — Vergleicht man das
im Goethemuseum in Frankfurt a. M. vorhandene
Bild dieser letzteren mit den Gesichtszügen Goethes,
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so fällt eine überraschende Ähnlichkeit des Goethe-
kopfes in Form und Ausdruck mit dem Porträt dieser
Frau auf. Goethe hat also morphologisch in
Fig. 2. Frau Stadtschuttheiß Textor.
bezug auf die Kopfbildung viel weniger Beziehung
zu seinen beiden Eltern, als zu seiner Groß-
mutter mütterlicher Seite. Wer sich im Zu-
sammenhänge der methodischen Familienforschung
mit der Frage der Ähnlichkeit bei Blutsverwandt-
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Schaft unbefangen beschäftigt hat, wird hierin nur
ein Beispiel einer nicht seltenen Vererbungser-
scheinung erblicken.
Vergleicht man nun die hervorgehobene psy-
chische Eigen-
schaft der Mutter
mit dem Stammcha-
rakter ihrer väter-
lichen Familie Tex-
tor, so erscheint
die Ableitung jener
aus dieser Stamm-
reihe sehr unwahr-
scheinlich, und es
fragt sich, ob Goe-
thes Mutter nicht
diese Lust zu fa-
bulieren von der
gleichen Frau ge-
erbt hat, welcher Fig . 3. Goethe
Goethe seinen m 0 r- nach einem Gemälde von K ' 1 Raabe (1811) -
phologischen Gesichtstypus verdankt. —
Goethes Mutter hat also morphologische Eigen-
schaften auf ihren Sohn Wolfgang übertragen, die
sie selbst bei der Ähnlichkeit mit ihrem Vater nicht
besessen hat; eine Erscheinung, die sich bei dem
Studium der Vererbung von Eigenschaften sehr
häufig aufdrängt. Jene ist also in dieser Beziehung
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im Zusammenhänge der Vererbungsreihen lediglich
Zwischenträgerin oder Vermittlerin einer Eigenschaft,
die sie selbst nicht besessen hat, welche jedoch in
Fig. 4.
Goethe nach einem Stich von K. A. Schwerdtgeburth (1832).
ihr als Keimanlage von seiten ihrer eigenen Mutter
vorhanden war.
Nimmt man nun an, daß auch die Lust zu
fabulieren von Goethes mütterlicher Groß-
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mutter, der geborenen Lindheimer, stammt, so
hätte Goethe in psychologischer und morpho-
logischer Beziehung eine sehr wesentliche Deter-
mination aus der Familie Lindheimer empfangen. —
In meinem Buche über „Familienforschung und Ver-
erbungslehre“ habe ich (Seite 70) die genauere Er-
forschung dieses Zusammenhanges als eine Aufgabe
hingestellt, welche nicht nur für die Goetheforschung
im speziellen Falle, sondern für die Vererbungslehre
im allgemeinen von Bedeutung werden kann.
Unterdessen bin ich auf diesem Wege weiter-
gegangen und habe dabei eine Anzahl von Tat-
sachen ermittelt, die in der mir zugänglichen Lite-
ratur entweder gar nicht oder nur lückenhaft erwähnt
sind. Einige Aufklärung empfing ich aus dem Buche
von Herbst über Goethe in Wetzlar, in dem je-
doch mehrfach Verwechselungen Vorkommen, weitere
aus der inhaltsreichen Schrift von Heinrich Düntzer
„Goethes Stammbäume“. Ich möchte das bisher
Ermittelte unter dem biographischen Titel: „Goethes
Wetzlarer Verwandtschaft“ zusammenfassen.
Der Vater von Goethes Großmutter, der erwähn-
ten geborenen Lindheimer, war Gerichtsprokurator
am Reichskammergericht in Wetzlar. Eine Tochter
dieses Dr. Lindheimer, also eine Schwester von
Goethes Großmutter mütterlicherseits, war in erster
Ehe mit einem Herrn Dietz zu Wetzlar verheiratet,
in zweiter Ehe mit einem Geheimrat Lange, als
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dessen Witwe sie zur Zeit von Goethes Aufenthalt
in Wetzlar 1772 lebte. Ihre Wohnung befand sich
in Wetzlar am Kornmarkt, an der Ecke der Ge-
wandsgasse, in dem Hause, worin sich gegenwärtig
Fig. 5. Wohnung von Frau Qeheimrat Lange.
eine Buchhandlung befindet. Diese Wohnung liegt
nur zirka siebzig Schritte von dem Hause in der
vom Kornmarkte nach dem Eisenmarkte führenden
Gewandsgasse entfernt, wo der junge Goethe in er-
reichbarer und leicht kontrollierbarer Nähe der Groß-
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tante untergebracht worden war. Die Lage dieser
„Dichterwohnung“ ist im Vergleiche zu Goethes
ausgeprägter Naturschwärmerei eine geradezu trost-
Fig. 6. Goethes Wohnhaus.
lose, und wäre als eigene Wahl Goethes geradezu
unbegreiflich. Es gehört kaum eine besondere Lieb-
haberei an schöner Natur dazu, um in dieser engen
Gasse mit dem Ausblicke nach der ebenso engen
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und düsteren Entengasse den lebhaftesten Trieb
nach einem schrankenlosen Herumwandern in .der
herrlichen Umgebung Wetzlars auch jetzt noch zu
empfinden. Hier war das junge und impulsive
Genie in vorsorglicher Familienaufsicht unterge-
bracht und eingetan.
Fig. 7. Buffs Haus.
Wie er sich dieser Einengung als Naturschwär-
mer entzogen hat, kann man aus den „Leiden des
jungen Werther“ erkennen; jedoch bot ihm dieWetz-
larer Verwandtschaft auch erfreulichere Dinge, be-
sonders den Zugang zu einem Hause, dessen Be-
treten für ihn von einschneidendem Einfluß in
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menschlicher und künstlerischer Beziehung werden
sollte. In diesem lebte die Familie des Amtmanns
Buff, dessen eine Tochter Lotte war. Goethes Groß-
tante, Frau Lange, hatte aus der zweiten Ehe zwei
Töchter, die also blutsverwandte Cousinen von
Goethes Mutter waren, wenn sie auch in bezug
Fig. 8. Lotte-Zimmer.
auf Lebensalter Wolfgang näher standen, und daher
wohl ohne genauere Kenntnis des Zusammenhanges
als Goethes Cousinen gelten konnten. (Vergleiche
das Buch von Herbst, Seite 46 und 110.) Ein Sohn
der Großtante Lange aus erster Ehe, Hofrat Dietz,
war damals mit Lottes älterer Schwester Karoline
verlobt. Durch ihn ist Goethe später tatsächlich
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mit Lotte verwandt geworden, da Dietz ein Vetter
seiner Mutter war, wobei Cornelius Lindheimer
als gemeinsamer Großvater erscheint. Als Goethe
nach Wetzlar kam, verkehrte Dietz offenbar schon
sehr vertraut im Buffschen Hause, ebenso wie Kest-
ner. Herbst sagt darüber (Seite 46): „Den Sohn
erster Ehe dieser Tante (in Wirklichkeit Großtante),
den Hofrat Dietz, fand Goethe bald auch im Buff-
schen Hause, aus dem jener später die älteste Toch-
ter Karoline heimführte.“
Bei der Fahrt nach Volpertshausen zu dem länd-
lichen Balle, der in der Seelengeschichte von Goe-
the-Werther eine so große Rolle gespielt hat, war
Goethe im Wagen zusammen mit seiner „Cousine“
(richtiger Cousine der Mutter) Johannette Elisabeth
Christine Lange, die er engagiert hatte, und Lotte
Buff, die er im Amtshause selbst abholte (Herbst
Seite 110). Offenbar war das vertraute Verhältnis
der Familien Lange und Buff die Voraussetzung
zu dieser Annäherung Goethes an Lotte.
Übergehen wir diese Wirkungen seiner Wetzlarer
Verwandtschaft und fragen wir uns im Hinblick auf
die Vererbungslehre, ob sich bei seinen dortigen
Blutsverwandten irgend welche für die Erklärung
seiner Naturanlage wesentliche Züge finden lassen.
Aus dem Buche von Heinrich Düntzer „Goethes
Stammbäume“ ist folgendes über die Familie Lind-
heimer zu entnehmen.
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Seite 10: „ln Wetzlar befand sich seit längerer
Zeit als Reichskammergerichtsprokurator und Advo-
kat ein anderer Frankfurter von angesehener Familie,
Cornelius Lindheimer, dessen Bruder Johann Jost,
wie Goethes Vater, wirklicher Kaiserlicher Rat, mit
einer Tochter des Adelsgeschlechtes v. Uffenbach
vermählt, noch in Frankfurt wohnte. Der Schöffe
Johann Friedrich v. Uffenbach hatte eine Lindheimer,
vielleicht dessen Schwester, zur Frau, die 1752 starb.
Cornelius Lindheimer war seit dem 24. August
1697 mit der 1652 (?) im Meiningischen geborenen
Katharina Elisabethe Juliane vermählt, einer Tochter
des Wetzlarischen Syndikus Johann David Sei pp
von Peffenhausen. Aus dieser Ehe stammten zwei
Söhne, David und Georg, und fünf Töchter. Lind-
heimer starb im Jahre 1724. Drei Jahre später führte
Textor die dritte, am 31. Juli 1711 geborene Tochter,
Anna Margareta, heim. Die beiden ältesten Schwe-
stern waren nach Westerburg und Halberstadt ver-
heiratet.“
Seite 16: „Zu Wetzlar hatte sich damals (d. h. 1741)
die jüngste Schwester seiner (Textors) Gattin, Su-
sanna Maria Cornelia, mit dem Prokurator und Ad-
vokaten des Reichskammergerichts, Hofrat Dr. Dietz,
vermählt. Der Sage nach soll diese einige Jahre im
Hause Textors erzogen worden sein.“
Seite 13: »In dem letzteren (Jahre d. h. 1729)
führte ein um ein Jahr jüngerer Landsmann, der nach
Sommer, Goethes Wetzlarer Verwandtschaft. 2
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seinen Studien und großen Reisen sich in Frankfurt
niedergelassen hatte, die vierte Tochters Lindheimers,
Katharina Sibylla, als Gattin heim (Johann Michael
von Loen).
Von den beiden Söhnen Cornelius Lindheimers
war der eine (vgl. Dlintzer Seite 18) Offizier und
zwar „Leutnant im sogenannten weißen Regiment,
der damals nach Diezenbach kommandiert war“.
Von diesem wird bei Düntzer eine psychologisch,
in gewissem Sinne auch psychiatrisch interessante
Geschichte berichtet, die sich in einer größeren
Gesellschaft bei Textors abgespielt hat. „Bei den
Scherzspielen wurde zuletzt »der ganzen Gesellschaft,
das Frauenzimmer nacheinander zu küssen, aufge-
geben«. Dies war fast zu Ende, als Hoffmann (Dra-
gonerhauptmann, später der Ehemann von Textors
jüngster Schwester) Lindheimers Frau küßte, worüber
der Gatte in solche Wut geriet, daß er ihn schmähte,
hinterrücks überfiel, ihm die Perücke vom Kopfe
schlagend den Degen zog, mit dem er ihn am Kopfe
und an der Hand verwundete; das strömende Blut
lief ihm vom Gesicht herab: Hoffmann und andere
hielten den Wütenden zurück.“ Der dabei mit ver-
wundete Hofrat von Oienschlager forderte (vgl.
Düntzer Seite 19) Satisfaktion wegen des „atten-
tierten homicidii dolosi“, der Rat beschloß jedoch,
„da Lindheimer nicht unter seiner lurisdiktion stehe,
Olenschlager an dessen Landesherrn zu verweisen“.
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„Später ward freilich ein Zeugenverhör beschlossen
und abgehalten, aber die Sache verlief im Sande,
da die fürstliche Regierung zu Darmstadt mit Re-
pressalien drohte, wenn man Lindheimer im Frank-
furtischen niederwerfe.“
Jedenfalls zeigt der Vorfall, der völlig aus dem
friedlichen Rahmen der Pfänderspiele des 18. Jahr-
hunderts herausfällt, daß dieser Bruder von Frau
Textor sehr stark erreglich gewesen ist. In seinem
weiteren Fortkommen hat ihn dieser Wutanfall
offenbar nicht gehindert, wobei der Einfluß seines
Onkels Johann Jost Lindheimer vielleicht beigetragen
hat. Dieser hatte es (vgl. Düntzer Seite 15) „durch-
gesetzt, daß er und seine beiden Neffen, Textors
Schwäger, unter dem Namen von Lindheim in
den Reichsadel erhoben werden; er selbst hatte nur
eine in Braunschweig verheiratete Tochter.“ Es
wäre interessant, den möglicherweise noch vor-
handenen Adelsbrief zu kennen und vielleicht dar-
aus zu erfahren, aus welchen Gründen diese Ver-
setzung in den Adelsstand erfolgte.
Im Vordergrund unseres Interesses steht Goethes
Großmutter Textor, geborene Lindheimer.
Es wäre wichtig, Genaueres über die geistige
Beschaffenheit dieser Frau zu erfahren, von der
W. Goethe offenbar manche Anlagen geerbt hat.
Leider finde ich hierfür bisher nur eine spärliche und
zweifelhafte Quelle, nämlich die von Düntzer an-
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gedeuteten Äußerungen Senckenbergs über diese
Frau. Düntzer hat sehr überzeugend nachgewiesen,
wie wenig man Senckenbergs Äußerungen über
die ihm verhaßte Familie Textor trauen kann, was
bei der Bewunderung seiner großartigen Frankfurter
Stiftung leicht vergessen wird. Mit diesem Be-
merken kann hier Düntzers Äußerung (Seite 45)
wiedergegeben werden:
„So wagt es denn dieser selbstgerechte Weiber-
feind, auch dessen (Textors) Gattin der schlimm-
sten Verletzung ihrer Frauenehre zu zeihen“. Das
Original von Senckenbergs Äußerungen hat mir nicht
Vorgelegen. Es wäre angezeigt, sie vom Standpunkt
der Psychologie der Aussage genauer zu unter-
suchen.
Somit kann ein Urteil über die geistigen An-
lagen dieser Frau bisher nicht gefällt werden, es
bleibt jedoch der bedeutende Eindruck ihres Porträts,
besonders der Augen und der Stirn, die dem
Gesicht ihres berühmten Enkels ganz auffallend
gleichen. Auch Düntzer hat, wie ich nachträglich
aus seinem Buch gesehen habe, diese Ähnlichkeit
bemerkt und hervorgehoben:
(Seite 55) „Ihr Bildnis zeigt eine auf-
fallende Ähnlichkeit mit ihrem Enkel, dem
Dichter: große, bedeutende Augen, strengen
Herrscherblick und eine hohe, mächtige
Stirn“.
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Im Sinne der Vererbungslehre muß also vor
allem die Abstammung dieser Großmutter Goethes
genauer untersucht werden.
Hierbei tritt die Figur seines Urgroßvaters, des
Dr. Cornelius Lindheimer, des Vaters der Frau
Lange und der Frau Textor, somit des Großvaters
mütterlicherseits der Frau Rat, sehr charakteristisch
hervor. Als Quelle hierfür fand ich in der Universi-
tätsbibliothek in Gießen die „Geschichte der Stadt
Wetzlar" von F. W. Freiherrn von Ulmenstein (II.
Teil 1806, Wetzlar, Stockische Druckerei). Der Ver-
fasser schildert im allgemeinen die Stellung der
Prokuratoren des Reichskammergerichtes, zu denen
Dr. Lindheimer gehörte, als ein Mittelding zwischen
dem wesentlich aristokratischen und feudalen Stand
der Kammergerichtsmitglieder und dem höheren
Bürgertume der alten freien Reichsstadt, und zeigt
die eigentümliche Lage dieses juristischen Mittel-
standes bei den Parteiungen, die sich besonders in-
folge von Rangstreitigkeiten am Reichkammergericht
gebildet hatten. In dieser kritischen Zeit ist Cor-
nelius Lindheimer in einer ganz eigenartigen Weise
literarisch hervorgetreten.
Im Jahre 1702 wurde, nachdem der spanische Erb-
folgekrieg 1701 ausgebrochen war, der Reichskrieg
gegen Frankreich beschlossen. Zum Schutz gegen
die Franzosen, die (vgl. von Ulmenstein II, S. 352)
aus der Kurkölnischen Residenzstadt Bonn weite
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Streifereien unternahmen, wollte Landgraf Ernst Lud-
wig von Darmstadt zum Schutze des Reichskammer-
gerichtes die Stadt Wetzlar mit einer Besatzung von
ungefähr hundert Mann versehen.
„Die Wetzlarischen Bürger, im unaufhörlichen
Wahne, daß man dabei die Verletzung ihrer Frei-
heiten und Privilegien im Auge habe, sperrten an-
fänglich diesem kleinen Heerhaufen die Stadttore,
warfen ihn von den Stadtmauern mit Steinen und
thaten einige nächtliche Ausfälle gegen ihn.“ Darauf
erfolgte eine sechstägige Belagerung bis zur Auf-
nahme der Besatzung. Dieser Vorfall war nach von
Ulmenstein von einigen wirklich komischen Auftritten
begleitet, „z. B., daß eine Nachtwache (Patrouille)
der Bürger, die in der Dunkelheit ein Geräusch
hörte, und den Geräuschmacher für einen Darm-
städtischen Soldaten, der spionieren wollte, hielt,
einen dem Müller am Häusertore entwischten Esel,
da sie auf die Frage: Wer da? keine Antwort er-
hielt, erschoß, usw“.
„Dieser und einige ähnliche lächerliche Auftritte
reizten einige Wetzlarische Witzlinge zur Satire.
Von diesem Hauche beseelt, verfaßten sie ein
Tagebuch, welches eine umständliche drollige Be-
schreibung dieser komischen Szenen enthielt, und
zeichneten Abbildungen dazu, wovon sie in Mainz
Holzschnitte machen lassen wollten. Ehe aber noch
dieser Entwurf ausgeführt werden konnte, wurde er
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entdeckt und vereitelt. Mit dem Entwürfe entdeckte
man auch seine Urheber.
Gewiß ist es, daß der Kammergerichtsprokurator
Dr. Johann Philipp von Pulian und der Kammer-
gerichtsprokurator Dr. Cornelius Lindheimer zu
diesen Witzlingen gehörten.“
Diese Schrift, welche sich an eine Reihe von
anderen satirischen Schriften anschloß, durch welche
Mitglieder des Reichskammergerichtes getroffen
waren, hat für die Verfasser sehr unangenehme
Wirkungen gehabt. Der Führer der einen Kammer-
gerichtspartei, Freiherr von Ingelheim, stellte nach von
Ulmenstein (II, Seite 364) „den Inhalt des Tagebuches
dem Landgrafen Ernst Ludwig von Hessen-Darm-
stadt bei einer Zusammenkunft auf der Jagd in
einem so nachteiligen Lichte dar, daß dieser Fürst
sich und seine Kriegsmannschaft dadurch beleidigt
hielt und beim Reichskammergericht auf eine Unter-
suchung und eine Genugtuung der ihm dadurch
zugefügten Beleidigung drang.
Dieses Verlangen gab dem Freiherrn von Ingel-
heim und seinen Anhängern in einer am 2. Januar
1703 gehaltenen vollen Ratssitzung den Anlaß, eine
sehr strenge Untersuchung gegen den Dr. von Pulian
und seine Mitschuldigen bei der Verfassung des
Tagebuches zu verhängen, die Pulianischen Akten,
Briefschaften und alle übrigen Papiere zu ver-
siegeln usw.“ Diesem hochnotpeinlichen Verfahren
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haben wir es offenbar zu verdanken, daß das Tage-
buch, dessen Mitverfasser einer von Goethes Vor-
fahren war, erhalten worden ist. Bevor wir auf
den Inhalt desselben eingehen, gebe ich noch eine
Notiz über den weiteren Verlauf der für die Ver-
fasser nicht ungefährlichen Sache. Nach von Ulmen-
stein (Seite 366) gelang es einigen einflußreichen
Namen, „dem Landgrafen Ernst Ludwig den Zweck
des Tagebuches aus einem anderen Gesichtspunkte
zu zeigen, und ihn zu überführen, daß die Verfasser
die Absicht einer Beleidigung seiner Kriegsmann-
schaft nicht gehabt hätten“. Dies ist offenbar richtig,
andererseits ist dieses Tagebuch im Grunde eine
geradezu köstliche Satire auf die ganzen Zeitver-
hältnisse, besonders die Eifersüchtelei zwischen der
freien Reichsstadt und den aufstrebenden Territorial-
gewalten.
Der bei von Ulmenstein im Anhang zum III. Bande
abgedruckte Text lautet:
„Diarium obsidionis Wetzlariensis.“
„Es ist reichskundig, daß, nachdem die glück-
liche Eroberung der Stadt und Festung Landau aller
Orten im Reich erschollen, mithin bei allen ehr-
liebenden teutschen Patrioten eine unbeschreibliche
Freude erwecket worden, fast zu gleicher Zeit ein
hinkender Bot nachgekommen, so die Überrumpe-
lung der Reichsstadt Ulm mitgebracht, und diese
Freude bey jedermann ziemlichermaßen wieder ver-
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störet hat. Dieses Stragema erweckte bey den weit
aussehenden Politicis ein großes Nachdenken, ob
nicht etwa eine Fatalität über die Reichsstädte ver-
hängt sei und dermalen ausbrechen möchte. Dieser
Soup^on fassete auch die Stadt Wetzlar, wo itzo der
kaiserl. Kammergerichts-Wohnsitz ist, occasione,
daß zu der Zeit, als den 13. Sept. 1702, einige
Hundert Mann Hessen - Darmstädtische Landmiliz,
unter Kommando eines Majors und anderer Offiziere
vor diese gute Stadt ruckten, welche dieselbe vor
den in der Nachbarschaft herumschwärmenden
feindlichen Parteien zu schützen, vor eine gewisse
Anzahl Mannschaft Einquartierung verlangte.
Gleichwie aber einige in die staats-vernünftige
Gedanken verfielen, daß es denselben nicht so sehr
um die Stadt zu beschützen, als sie etwa um die
reichsbürgerliche Freiheiten zu bringen, zu thun
wäre, also hätten sich Herrn Bürgermeister, Rath
und gemeine Bürgerschaft, wie ein Mann zusammen
verbunden, viel lieber Gut und Blut aufzuopfern,
als sich diesem Hessischen Landausschuß, als vor-
nehme Reichsbürger und ein konsiderabeler Reichs-
stand des Reichs so schlechter Weise zu ergeben.
Es wurden derohalben sogleich alle Pforten ver-
schlossen und die Posten rings um die Stadt mit
nöthiger Mannschaft besetzt. Wie nun dem hessi-
schen Major also der Eingang benommen wurde,
zerteilte er seyne Milize in zwey Theil, davon er
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den einen Theil vor das sogenannte Haußer Thor
lagerte. Er selbst aber mit dem größten Theil po-
stierte sich vor dem Oberthor, und lies niemand
weder aus noch in die Stadt, wie dann binnen der
Stadt gleichfalls solche Anstalt gemacht wurde, daß
keinem fremden Menschen, um allen Spionierereyen
vorzukommen, ja sogar nicht einmal den zur kaiser-
lich. Kammer gehörigen Boten, Praktikanten und
Sollizitanten, auf eine Mauer oder irgend einen
mit Reichsbürgern besetzten Posten zu gehen,
und sich umzuschauen verstattet, auch manchem
deswegen der Vorwitz mit einer guten Tracht
Seitenstöße und anderen unfreundlichen Traktamen-
ten vertrieben worden.
Donnerstag, den 14. Sept. geriet es das erstemal
zur wirklichen Hostilität, nachdem die vor dem Hau-
ßer-Thor postierte Truppen Morgends frühe zwischen
4 und 5 Uhr unter favor eines dicken Nebels bis
an die äußerste Pforte des Stadtthors anrückten,
und darfnn in kurzer Zeit mit Axen und Beilen
ein Loch haueten, auch sich gewiß sowohl des in-
neren als äußeren Thors bemächtigtet haben würden,
wenn nicht alsobald die hierzu kommandierte Bür-
ger und junge Mannschaft bewaffneter Hand sich
mit den bereits auf der Mauer logierten Feinden in
eine solche Haar-Kollation eingelassen hätten, daß
diese mit Verlust zweyer Musqueten sich zu retiri-
ren wären gezwungen worden. Diese so männlich
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gethane und glücklich gelungene Gegenwehr nun
encouragirte die Belagerten dermaßen, daß keiner,
der auf einem Posten gestanden, nicht gewünschet,
eben das Glück zu haben, mit dem Feinde in ein
solches Kombat zu gerathen; und weil es schien,
daß dieBelagerer mit solchemFrühstück nicht zufrieden
seyn, sondern ihren abandonierten Posten mit Ge-
walt behaupten wollten, als würde ein Ausfall resol-
virt, und deswegen unter die freiwillig sich an-
bietende, um denselben ein Herz und Kourage
einzugießen, etliche Flaschen mit Brandenwein und
Körbe mit Wecken ausgetheilet, die Stunde aber um
9 vormittags dazu determiniret.
Allein nicht sowohl die Hitze des Brandenweins,
als vielmehr die Liebe des gemeinen Besten und
Bestreitung der Reichsbürgerlichen Freyheiten ent-
brante dergestalt ihre Herzen, daß man die be-
stimmte Zeit nicht abwarten konnte, sondern es
rückte gleichsam ein ganzes Heer hinaus, mit Waffen,
deren ein jeglicher in seiner täglichen Oekonomie ge-
wohnt war, attaquirten ohn Versehens den Feind, und
scharmutzierten tapfer mit demselben herum. Han-
nes Oehler, wie man sagte, kriegte den Korporal,
einen hauptbraven und mannvesten Kerl bei der
Karthaus, und Schwung ihn rechtschaffen ab; Seip, der
Metzger, lief auch voran, fragte immer: wo bleiben
dann unsere Offiziers? Endlich kam alles nach,
und mußten also die Belagerer das Feld räumen.
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Ja! es ist nicht ein einziger, der zum Ausfall
kommandirt gewesen, der es hätte an sich kommen
lassen, daß er die wenigem Schläge ausgetheilet,
ob er gleich auch seinen Part davongetragen.
Wie nun der Feind so heldenmütig in die Flucht
geschlagen und verfolgt worden, als entstund hier-
auf, wie leicht zu gedenken, eine so ungemeine
Freude, daß es wenig gefehlet, man hätte das Te
Deum intoniren, ja die alte Weiber gar ihre Feuer-
Mörsel, Karren-Büchsen und Stick-Potte abdonnern
lassen. Man nahm aber vor diesmal mit der Ehren
und eroberten Sieges-Zeichen, als obigen zwey
Musqueten und einem Bandelier, vorlieb, und reti-
rirte sich ein jeder wieder nach Haus oder an sei-
nen angewiesenen Posten.
In der Nacht aber, um die gewöhnliche Stunde,
da der kommandierende Offizier die Ronde pflegte
zu gehen, entstund gählings an einem Posten ein
großer und sehr gefährlicher Allarm. Es war nem-
lich einem Müller ein Esel aus dem Stall entloffen;
dieses arme Thier, wiewohl , es sonst mehrmals bey
der Nacht in der Stadt herumzuwandern, und das
Schrot- Malz nach der Mühle abzuholen gewohnt
war, wurde wegen des stetigen Anrufens, wer da?
und des hier und dort Patroullierens der Wache
mit feurigen Lunten, in die größte Ängste und end-
lich gar in die Irre getrieben; weswegen dasselbe
bis hinter die Stadtmauer sich retirirte. Eine Schild-
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wacht, so von weitem diesen Patroullanten hörte,
schrie an, wer da? Kaum als der Esel näher her-
beikam, und die Schildwache Allarm machte, war
schon eine ganze Rotte Bürger da, darüber der
eine dies, der andere jenes raisonnirte, die meisten
aber dafürhielten, daß es der kommandirende Offi-
zier, so die Ronde ging, seyn müsse und nur dar-
um so still daher geschlichen käme, damit er sehen
mögte, ob die Wache schliefe oder nicht; deswegen
sie nun gesammter Hand darauf losgingen und die
Parole haben wollten.
Weil aber dieser Unschuldige sich voller Schrek-
ken befindende Esel kein Wort antwortete, meinten
sie nicht anders, dann es müsse ein Spion seyn, ga-
ben deswegen Feuer und entseelten das arme Thier,
daß dasselbe sogleich sich todt dahin streckte.
Gleichwohl weil es Kriegsraison gemäs, einen sol-
chen, der auf dreimal wiederholtes Anrufen keine
Antwort gibt, zu tödten; also wurde daher auch der
Thäter, des anderen Tages von des Müllers ange-
stellter Klage völlig absolviert; compensatis ex-
pensis.
Freytags den 15ten bekamen die Belagerer einen
starken Renfort von den Roth-Röcken, welche gleich
jenseits des Wassers, vor dem Länggässer Thor
Posten fasseten, und mithin auch die Stadt enger
einschlossen und blokirten. Diese neu angekom-
mene Leute wollten nun auch ihre Bravour er-
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weisen, approchirten deswegen in folgender Nacht
bis an das Stadtthor, und vermeinten dasselbe durch
Hülfe der finsteren Nacht und dicken Nebels mit
List in der Geschwinde zu überrumpeln. Aber sie
fanden die Belagerten ganz allert, so daß sie auch
hier wieder abziehen musten; denn der komman-
dierende Offizier in der Stadt stellte erstlich seinen
Untergebenen die große Gefahr vor, worinn sie
schwebten, und demnächst sprach er ihnen ein Herz
zu, und ermahnte sie zur ritterlichen Gegenwehr,
mit diesen nachdrücklichen Worten: nun ihr lieben
Bürger und Mitbrüder! haltet euch wohl, und streitet
vor das gemeine Vaterland und euere Freiheit und
Privilegia. Jetzt gilts oder nimmermehr; drum
schlagt an, wann sie anschlagen, und gebt Feuer,
wann sie geschossen haben, sonst könnte ein großes
Herzeleid daraus entstehen. Es fragte hierauf einer:
aber wie sollen wirs dann gemachen? wir können
ja, weil es finster Nacht und Nebel ist, nicht sehen,
wann sie draußen anschlagen. Der Fähndrich rekol-
ligirte sich hierauf und sagte: Es ist auch wahr,
drum, wann sie Courage hätten, so kämen sie bey
Tag, daß man sie sehen könnte. Noch entstund
auf einem andern Posten ein neuer gleichfalls ge-
fährlicher Allarm; nemlich frühe morgens in der
Dämmerung däuchtete ihrer zwey auf der Stadt-
mauer stehenden Schildwachen, sie sähen einen
Hessischen Soldaten ganz nahe an der Mauer stehen;
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ohnzweifentlich, daß er alles hören und auskund-
schaften mögte, was darinn vorging. Deswegen
resolvirten sie sich, Feuer auf ihn zu geben und
ihn als einen Verräter zu tödten. Der erste schoß
und meinte, er hätte ihn übern Haufen geschossen.
Der andere disputirte mit ihm, und wollte es nicht
gelten lassen; er sehe ihn ja noch da stehen; schlug
deswegen auch an. Es ging aber zu allem Glück
die Büchse nicht los. Wie sie nun also sich wie-
der mit einander zankten, und einer den andern
auslachte, brach unterdessen der liebe Tag an, da
dann der letztere, dem die Büchse versagte, herz-
lich anfing zu lachen; 0, sind wir nicht zwei Stock-
fische! wie bin ich doch jetztund so froh, daß ich
nicht geschossen habe, wie du! Siehest du nicht
den großen Stein, den wir für einen Spion ange-
sehen haben?
Samstags den 16ten passierte nichts sonderliches,
als daß man aller Orten sonderlich inwendig der
Stadt auf guter Hut stund und auf die etwaige in
der Stadt befindliche Spionen scharfe Inquisition
hielt; denn man konnte leicht urtheilen, daß, weil
der Feind nach so vielen schweren Niederlagen, den-
noch die Belagerung und die Blokade nicht auf-
heben wollte, man eine heimliche Intelligenz mit
einigen in der Stadt haben müsse. Dieses bezeigte
sich demnach also: denn erstlich begab sichs, daß
Dr. Hofmann die Auslassung seines Knechts mit
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einem Pferd, um denselben nach Braunfels zu ver-
schicken, begehrte; welches er endlich, wiewohl mit
großer Mühe erhielt. Dieser aber, sobald er vor
das Thor kam, wendete er sich und ritt gerades
Weges dem Lager zu, und überreichte dem Hessi-
schen Major ein verschlossenes Schreiben, worinn
er zwar seinem Vorgeben nach, um Verschonung
seines Gartens geschrieben haben solle; aber von
den Belagerten keineswegs geglaubt, sondern für
eine Verrätherey gehalten werden wollte ; deswegen
die häufig auf der Mauer versammelten Bürger mit
Fingern auf den Verräther gedeutet, und mit lauter
Stimme: Du Spion, du Verräther! ihm zugerufen
haben. Notarii Kirschbaum größester Bub machte sich
aus Einfalt an das Silberthor zu den allda in Be-
reitschaft liegenden Bürgern, praktizirte sich hernach
durch das kleine Thürgen hinaus, ging zu dem Feind
über und verkundschaftete ihm alles, was er gehört
hatte; zeigte ihm auch, wo sie die Stadt am besten
angreifen, und sich ihr bemeistern könnten, und zwar
mit solcher kindischen Unvorsichtigkeit, daß es jeder-
mann sehen und ihre Discourse hören könnte; ver-
meinte demnach, quasi re bene gesta, cum bona
pace, wieder also in die Stadt zu schleichen, aber
es wurde ihm das Wams geledert, und der Lohn
dergestalt auf den Buckel bezahlt, daß wenn nicht
seine Mutter herbeygekommen , er zu einem Brey
geschlagen worden wäre. Die Nacht hindurch war
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es still, wie auch Sonntags früh den 17ten. Bis
nach allerseits verrichtetem Gottesdienst wurden
keine Hostilitäten verübet. Als nun das Lager durch
einen abermaligen neu angekommenen Renfort pro-
longiert und mithin bis an das Silber Thor exten-
dirt worden, und also die Stadt von Tag zu Tag
mehr eingesperrt wurde und nur noch ein einziges
Thor unberennt offen war; indessen man aber mit
Jammer ansehen mußte, wie das Vieh den armen
Leuten auf dem Leib lag und fast verschmachten
mußte, als resolvirten einige, das Ihrige auf die
zwischen den beiden Wassern der Brücke gelegene
Insul auf die Weide zu treiben. Vorher aber wurden
etliche Volontaers durch das Wasser zum Recog-
nosciren ausgeschickt. Die Belagerer wurden dieses
Streiches gewahr; der Major setzte sich zu Pferd,
nahm ein Corps von etlichen und 20 Mann Füsiliers
mit sich, bediente sich des Durchgangs durchs
Wasser, postirte sich in einem Augenblick auf der
Insul, und trieb das Vieh in der größten Confusion
nach der Stadt zu ; Aber es währte nicht lang, und
hatte er kaum bey einem Bäumlein eine Schildwache
aufgestellt, als alles, was nur laufen konnte, hinaus-
lief, und den avancirten Feind umzubringen suchte;
Sonderlich legte die neue aufgerichtete Compagnie
junger Mannschaft damals die erste Probe ihrer
Tapferkeit ab; es stießen auch noch viele andere
resolute Bürger dazu, daß man vor deren Menge
Sommer, Goethes Wetzlarer Verwandtschaft. 3
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in einem Augenblick jene nicht mehr sehen konnte.
Der Major wurde demnach genötiget, sich so gut
er konnte, zu wehren, ließ die Bajonnetten in die
Flinten stecken, und Plotons machen. Die Bürger
und freie Compagnie thaten desgleichen, doch
ohne Ordre, weil sie nicht in Reihen und Gliedern
rangirt, sondern klumpenweis zufielen. Ja! der Ma-
jor rufte endlich den Seinigen zu: sie sollten an-
schlagen auf den halben Mann. Der Stadtlieutenant
rufte hinwiederum den Seinigen zu : So schlaget ihr
an auf den ganzen Mann. Wie man nun also bey-
nahe eine halbe Viertelstunde das Weisse in den
Augen gesehen, indessen des Majors Pferd mit
flachen Degen und mit Mistgabelstreichen wacker
zum Tanz aufgemuntert wurde, konnte dasselbe
dieses Aufspielen länger nicht aushalten, schlug dem-
nach hinter sich auf einen Kisselstein und sprengte
denselben dem Jost Waldschmidt, einem vornehmen
Metzger, so ohnlängst sein klein Häusgen bei der
Kammer abgebrochen, und einen schönen großen
Bau dahin setzen lassen, als er mit der Mistgabel
darauf schlagen wollte, aufs Aug, daß man ihn blind
zu seyn vermeinte, worauf sich die Schlacht doch ohne
Blutvergießung geendiget, die Belagerer in guter Ord-
nung sich zurückgezogen, und der Blessirte nach dem
Feldscheerer convojiret worden. Als nun der Major
also pas ä pas mit geschlossenen Reih und Gliedern
fortrückte, und fast bis an die Spitze der Insul,
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wo er übergesetzet hatte, kam, avancirte ein neues
Corps von mehr als 50 Mann ihm zu Hülfe, passierten
gleichfalls mit großer Herzhaftigkeit den Strom, con-
jungirten und setzten sich also wieder von Neuem.
Allein viele von denjenigen, so vorhin nachgeloffen,
kehrten wieder um, theils weil es ihnen nicht rat-
sam zu sein däuchte, sich mit dem Feinde so weit
vor der Stadt zu engagiren, theils weil es nach
dessen erhaltenem starken Renfort leicht gefährlich ab-
laufen, ihnen die Retirade nach der Stadt abgeschnitten
werden, ja! in Betrachtung, daß der meiste Theil
der Bürger sich allhier auf der Insul befinde, dahin-
gegen die übrigen Posten und Thore der Stadt-
mauer schlecht besetzt wären, der Feind leicht an
einem andern Orte ansetzen und sich dessen be-
meistern könnte. Endlich verließ doch der Major
die Insul als einen unhaltbaren Posten, zog sich
durchs Wasser wieder zurück, und rückte in
sein voriges Lager ein ; worauf die Belagerten
nachgehends an der Spitze der Insul, um dem
Feind das fernere Übersetzen zu disputiren, Schild-
wachen ausgesetzt haben. Unterdessen war jeder-
mann curios, wie doch endlich diese Belagerung
noch ablaufen mögte, und geschahen in und außer
der Stadt viele Wettungen, daß der Ort mit Sturm,
von anderen, daß er per Akkord übergehen, von
verschiedenen aber, daß die Belagerer noch gar
davon abziehen würden; daß sicherste aber wäre
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die Zurückkunft der nun zum zweiten Mal nach
Darmstadt abgeschickten Gesandtschaft, so in da-
sigem Sonnenwirt bestanden, abzuwarten, welcher
der Sache den Ausschlag geben würde. Indessen
schickten sich einige zu einer langwierigen Be-
lagerung, besonders diejenigen, so bey solchem
Zufall mehr Nutzen als Schaden zu erwarten hatten,
andere aber sagten rund heraus, sie wollten folgen-
den Tags die Thore aufmachen und ihren Feind bey
offenen Thoren erwarten. Wie aber die Zurück-
kunft der Gesandten sich bis in die späte Nacht
verzögerte, entstund unterdessen zwischen 8 und 9
Uhr der allergrößeste und gefährlichste Allarm
während der ganzen Belagerung, dann man hatte
abends wahr genommen, daß die Rotröcke vor
dem Langgässer Thor viele Faschienen, die sie
aber des Nachts, die Lagerfeuer zu machen,
um sich dabei zu wärmen , zusammengetragen
gemacht. Nun Sprung von ungefähr ein Fisch
im Wassergraben auf. Die Schildwache, die nicht
anders meinte, dann daß der Feind approchiren
und mit den Faschienen den Graben anfüllen
wollte, machte sogleich Lärm, darauf gieng es bunt
über Eck, und lief, was nur laufen konnte mit
Spiessen und mit Stangen, die Weiber mit Ofen-
und mit Mistgabeln, heissem Wasser, Hirschenbrey
und dergleichen, und waren nicht anders als reissende
Löwen und Bären, die von den Ketten gekommen,
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und alles ermorden und umbringen wollten. Als
nun der Lermen eine gute halbe Stunde gedauert,
und man endlich durch noch einen andern Fisch
den Irrtum wahr genommen hatte, war man zwar
grausam auf den Feind erbittert, man konnte sich
aber doch wieder getrösten, daß es noch so gnädig-
lich abgelaufen, und dieses vielleicht ein Warnungs-
zeichen gewesen sey. Ja, es sagte einer frey her-
aus, es wäre gut, daß dieser Lärm geschehen, dann
so hörten sie draußen, daß wir vigilant seyen. Und
gewißlich die öfters sonderlich bey nächtlicher
Weile tentirten feindlichen Anfälle und Stratage-
mata machten den Belagerten endlich so leise Ohren,
daß kaum ein Blatt rauschen durfte, daß nicht von
allen Orten das Feldgeschrey sich hören ließ; daher
denn auch das Unglück tn dieser Nacht einen
Maurergesellen, der ein Tiroler, betroffen, welcher,
da er um die Mitternacht aus der Corps de Garde
sich an der Stadtmauer an einem Ort, um sich seiner
Leibesbürde zu entbinden, niedergelassen, und sich
mit Kunz Unflat etwas hart räusperte, von der Schild-
wache angerufen ward: Wer da? Worauf er zwar
auf gut Tirolisch die Antwort gegeben: ly, ich! Wie
aber die Schildwache ferner gerufen: Was machst
Du? Da antwortete er in seiner Muttersprache:
Ich scheuß. Dies verstund die Schildwache nach
dem Wetzlarischen Dialekte, und meynte, er wolle
schießen, macht deswegen Lärm, und gleich kam
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die ganze Wache mit dem Gewehr herbei, nahm
den guten Schlucker in Arrest, und wiewohl er sie
damit abspeisen wollte: Er hätte ja nicht schießen
wollen, sondern gesagt, er scheiße; so wurde doch
dieses Einwenden für unerheblich geachtet, und er
deswegen Morgens früh vor den Herrn Bürger-
meister geführt, welcher ihn dann um eine Maas
Brandewein, zugleich auch seinen Meister, der nur
um eine gnädige Moderation gebeten hatte, auch
um eine Maß Brandewein gestrafet, welcher Brande-
wein hernach der Wach dergestalt zur Rekreation
und zum Frühstück gedienet, daher sie bei diesem
Posten nicht eher von der inmittelst erfolgten Ka-
pitulation etwas gewahr geworden, bis der Einzug
der Hessischen Truppen wirklich geschehen; wo-
mit es dann, mit wenigem zu berühren, folgender-
gestalt zugegangen: Nemlich nachdem die Ehren-
gesandtschaft von Darmstadt zurückgekommen, und
man den Mißverstand reiflich erwogen, ist endlich
Montags den 18ten zur Kapitulation geschritten und
der Hessische Major und Kapitän hereingelassen
worden; worauf sie dann nur für 125 Mann das Obdach
kapitulirt, demnächst die Zunfthäuser, wo die neuen
Gäste einlogirt werden sollten, besichtiget, sofort
die Hessische Mannschaft noch selbigen Abend ein-
gerückt, die übrige vor der Stadt befindliche Miliz
aber sich in die nächsten Dörfer zurückgezogen
und damit auch aller Lärm und Tumult in der
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Stadt gestillt worden. Gleichwohl sind alle Thore
und Posten von den Bürgern besetzt geblieben.
Auch wird die freie Compagnie junger Bursche
noch wöchentlich zweymal in armis exerzirt, und
versehen die Auxiliäres keine Wachen. Wie es
nun weiter ergehen wird, lehret die Zeit. “
In dieser Satire auf ein geschichtliches Ereignis
treten eine Anzahl von psychischen Zügen sehr
scharf hervor, nämlich
1. eine große Deutlichkeit der optischen Vorstel-
lungen,
2. eine phantastische Weiterbildung wirklicher Zü-
ge, die man als Konfabulation bezeichnen kann,
3. eine Freude am Grotesken und Drastischen,
4. unter scherzhafter Form eine sehr ernsthafte
Betrachtung kulturgeschichtlicher Verhältnisse,
5. in eigentümlichem Gegensatz zu dem komischen
Inhalt ein rationalistisch pedantischer Stil, der
zum Teil eine Nachahmung der reichsgericht-
lichen Schreibart darstellt.
Wir erkennen hier eine Reihe von Erscheinungen,
die in ganz ähnlicher Weise bei Wolfgang Goethe
erkennbar sind. Die außerordentliche Klarheit der
optischen Vorstellungen spielt in seinem ganzen
Kunstschaffen eine sehr bedeutende Rolle. Es tritt
dies ebenso in seinen poetischen wie in den Prosa-
werken hervor, besonders klar z. B. in den Briefen
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von der italienischen Reise, während derer Goethe
im einfachen Anschauen und in der Darstellung op-
tischer Eindrücke geradezu geschwelgt hat.
Über dieser optischen Grundanlage hat man bei
Goethe die oben an zweiter Stelle genannte Eigen-
schaft öfter vergessen. Sie tritt nicht nur in seiner
Jugend sehr deutlich hervor, sondern läßt sich auch
in einer großen Reihe seiner Werke als das wesent-
lich Künstlerische klar erkennen. Er selbst hat die
Lust zu fabulieren, als eine seiner Haupteigenschaften,
und zwar als Erbteil von seiten seiner Mutter, her-
vorgehoben. Die große Tragweite dieser Eigen-
schaft hat Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ zum
Ausdruck gebracht, wenn er dort über die von ihm in
der Knabenzeit erfundenen Märchen (im zweiten
Buche des ersten Teiles) folgendes sagt: „Und wenn
ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß,
diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunst-
mäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so
wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht
ohne schlimme Folgen für mich geblieben.“
„Betrachtet man diesen Trieb recht genau, so
möchte man in ihm diejenige Anmaßung erkennen,
womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste
gebieterisch ausspricht, und von einem jeden fordert,
er solle dasjenige für wirklich erkennen, was ihm,
dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr er-
scheinen konnte“. Es folgt in diesem Zusammen-
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hange bei Goethe das Knabenmärchen „Der neue
Paris“. Goethe hat hier selbst die Bedeutung des
Fabulierens in allgemein psychologischer und
künstlerischer Richtung hervorgehoben.
Auch der dritte der obengenannten Züge, näm-
lich die Neigung zum Grotesken, tritt in seinen
Werken, besonders im Faust, sehr deutlich zutage;
die Pudelszene, die Hexenküche, die Walpurgisnacht
im ersten Teil, das phantastische Treiben am Hofe
des Kaisers im zweiten Teil bilden ausgezeichnete
Beispiele für diese Art der poetischen Vorstellung,
die sich auch in anderen Werken bei ihm nach-
weisen läßt. Allerdings liegt hier nicht ein so herr-
schender Grundzug vor, wie ihn die Klarheit der
optischen Vorstellungen bildet, immerhin aber ein
charakteristisches Merkmal der Anlage, das seine
Persönlichkeit von anderen Künstlern unterscheidet,
wenn es auch nicht in jedem seiner Werke zum
Vorschein kommt.
Die vierte der genannten Eigenschaften, nämlich
das Verständnis für kulturgeschichtliche Zustände
und ihre Entwicklung, hat Goethe in hervorragen-
dem Maße in seinen Werken zum Ausdruck ge-
bracht. Gerade das Reichskammergericht in Wetzlar,
dessen Beschaffenheit er nur aus einer mehrmona-
tigen Anwesenheit in dieser Stadt kannte, hat
Goethe in„ Dichtung und Wahrheit“ in mustergültiger
Weise vom kulturgeschichtlichen Standpunkt dar-
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gestellt. Seine Werke sind voll von einzelnen
kulturgeschichtlichen Bemerkungen und zusammen-
hängenden Ausführungen dieser Art: Wilhelm Mei-
ster in seiner Gesamtheit ist im wesentlichen aus
dieser Eigenschaft Goethes zu verstehen , wobei
allerdings auch der ganze sonstige Reichtum seiner
Naturanlage in Kraft tritt.
Sehr merkwürdig ist es, daß auch der fünfte der
genannten Züge bei Goethe in ganz ähnlicher Weise
hervortritt. Die eigenartige Wirkung seiner Prosa-
kunstwerke beruht nicht zum mindesten darauf, daß
oft Vorgänge und Gefühlszustände, die ganz über
das Maß des Gewöhnlichen hinausgehen, in einer
ruhigen, gemessenen, berichtenden, manchmal ge-
radezu trockenen und verstandesmäßigen Weise vor-
getragen werden. Ich empfinde in diesem eigen-
artigen Gegensatz zwischen einem lebhaft bewegten
Inhalt und der einfachen Sachlichkeit der Darstel-
lung, besonders beim Vorlesen, den eigentlichen
Charakter des Goetheschen Stiles.
Rechnet man in jener Schrift das satirische
Moment der Nachahmung reichsgerichtlicher Schreib-
weise ab, so bleibt eine klare, logisch geordnete
Stilart, die durch ihren Widerspruch zu dem komi-
schen Inhalt im Grunde ganz ähnlich wirkt, wie
viele Stellen aus Goethes Schriften.
Faßt man die Tatsache ins Auge, daß sämtliche
hervorgehobenen Eigentümlichkeiten in Goethes
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Persönlichkeit und Schriften sich wiedererkennen
lassen, bedenkt man, daß der Mitverfasser jenes sati-
rischen Werkes, der Prokurator Lindheimer, ein
Vorfahre von Goethes Mutter ist, auf die Goethe
mit Recht seine Lust zu fabulieren zurückführt,
so liegt der Schluß nahe, daß Goethe durch Ver-
erbung von seiner Mutter in seiner Anlage zu die-
sem Großvater der Mutter in einer sehr engen
stammesgeschichtlichen Beziehung steht. Diese Auf-
fassung wird gestützt durch die Tatsache, daß Goe-
the morphologisch der Tochter jenes Mannes, d. h.
seiner Großmutter mütterlicherseits (der Frau Textor),
auffallend ähnlich sieht.
Nimmt man zu dem von Dr. Lindheimer stam-
menden Komplex von Eigenschaften noch die ratio-
nalen Züge des Vaters Goethe, sowie dessen aus-
geprägten Sammeltrieb, so entsteht eine Gruppierung
von Eigenschaften, aus der sich die synthetisch ent-
standene Persönlichkeit Goethes schon eher be-
greifen läßt, als aus dem Stammbaum der Familien
Goethe und Textor, deren Beschaffenheit viel mehr die
Entstehung eines tätigen Bürgers und geschäftstüch-
tigen Mannes, vielleicht auch eines Gelehrten, als die
eines genialen Künstlers erklärlich machen könnte.
Daß auch die ebengenannten Eigenschaften in
Goethe vorhanden waren, hat er in seiner Tätigkeit
als Minister in Weimar viel mehr erwiesen, als viele
seiner Bewunderer wissen.
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Jedenfalls sind gerade für das psychologische
Verständnis seiner künstlerischen Eigenschaften die
aus der Familie Lindheimer stammenden Anlagen
von sehr wesentlicher Bedeutung.
Ist diese Auffassung richtig, so hätten wir zu-
gleich eine Vermutung über das Erlöschen dieser
eigentlich genialen Eigenschaft des künstlerischen
Fabulierens bei Goethes Nachkommenschaft. Jene
erscheint als letzter Ausläufer einer Anlage, die,
von einem männlichen Stamme ausgehend, durch
Vermittlung der Tochter, Frau Textor, und Enkelin,
Frau Rath, in die Familie Goethe hineingetragen
worden ist, um nach einem letzten, heftigen Auf-
flammen zu verlöschen.
Jedenfalls darf nicht der Name eines bedeuten-
den Mannes ohne weiteres dazu führen, daß der
wesentliche Kern seiner Eigenschaften in der väter-
lichen Familie gesucht wird. Die Mutter spielt als
Vermittlerin von Eigenschaften, die sie selbst zum
Teil nicht zu besitzen braucht, eine viel größere
Rolle, als ihr im allgemeinen immer noch zuerkannt
wird.
Diese Zusammenhänge bei unseren bedeutenden
Männern zu erforschen, erscheint mir als eine dank-
bare Aufgabe, die nur auf dem Boden einer metho-
dischen Familienforschung gelöst werden kann.
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Literaturnachweis.
Gustav Koennecke. Bilderatlas der Geschichte der deut-
schen Nationalliteratur. Marburg 1895. Verlag von Eiwert.
II. Auflage.
Titelbild Goethe nach dem Ölbild von Stieler 1828-
Vgl. ferner die Bilder Seite 279, 283 u. a.
Karl Heinemann, Goethes Mutter. Verlag von Seemann,
Leipzig und Berlin 1900.
VI. Auflage, Seite 4. „Hier (in Wetzlar) trat er bald in
nähere Beziehungen zu dem ebenfalls aus Frankfurt stammen-
den Kammergerichtsprokurator Lindheimer, dessen dritte,
im Juli 1711 geborene Tochter Anna Margarete er im Jahre
1827 heiratete.“
Seite 6. Bildnis von Frau Textor geb. Lindheimer (Aus
Kesslers Gedenkblättern 1846).
Seite 8. Anna Margarete geb. Lindheimer (1711—1783).
In ihrem Bilde kann man große Ähnlichkeit mit
dem Enkel erkennen (folgt Zitat aus Diintzer). Brief
Goethes an seine Großmutter nach dem Tode des Groß-
vaters 1771: „Und so bleibe Ihre Liebe für uns, wie sie
war, und wo viel Liebe ist, ist viel Glückseligkeit. Ich
bin mit recht warmem Herzen Ihr zärtlicher Enkel J. W.
Goethe.“
Erwähnung der Großmutter durch W. Goethe in einem
Schreiben an Kestner vom 28. Januar 1773.
G. L. Kriegk, Die Brüder Senckenberg. Frankfurt am Main,
Verlag von Sauerlaender 1869.
Seite 319. „Die Stadtschultheißin Textorin ist guten Teiles
schuld an dem Bestellen des Accoucheurs, da ihre Tochter
Goethin unter Hebamme Müller lang in der Geburt aus-
gehalten, und das Kind (W. Goethe) vom langen Anstehen
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ohne Wendung wegen Verzögerung der Blutzirkulation
schwarz im Gesicht kam.“
Seite 342. Frau Textor zu Besuch bei dem Herzog von
Meiningen.
Seite 343. „Auch blieb die Stadtschultheißin in Verkehr
mit armen Verwandten, die sie in Wetzlar hatte. Dies geht
aus den Akten über eine in Frankfurt dienende, wegen
Ausschwindeins von Waren verhaftete Dienstmagd hervor,
welche die Tochter eines Dorfschulmeisters, aber mit
zwei Wetzlarer Notaren und mit dem dortigen Konrektor
Trullmann verwandt war. In den Akten befinden sich
nämlich Briefe der Mutter jener Magd, nach welchen die
Stadtschultheißin als Base zuweilen an diese Mutter ge-
schrieben hatte.“
Seite 345. Vorwürfe gegen Frau Textor.
Seite 347. Schwestern von Goethes Mutter: Frau Melber,
lebhaft, heiter, stets tätig), wurde 89 Jahre alt, gestorben
1823.
„Eine andere Tante Goethes war mit dem Pfarrer Johann
Starck verheiratet. Goethe Schilde, i sie als eine mehr
ruhige Frau; Senckenberg dagegen sagt, sie habe eine
feurige Natur gehabt und ihren Mann beherrscht.“
W Goethe, Dichtung und Wahrheit. Goethe-Ausgabe von
Kurz. Leipzig, Bibliographisches Institut, IX. Band.
Seite 14. Goethes Mutter.
Seite 37. Frau Melber geb. Textor. „Diese Tante war
unter den Geschwistern die lebhafteste.“
Seite 38. Frau Starck geb. Textor.
Seite 42. Jene leidenschaftliche Tante“ (Frau Melber?).
Seite 65. Joh. Mich, von LoSn „war mit der Schwester
meiner Großmutter Textor, einer geborenen Lindheimer,
verheiratet.“
Seite 67. Senckenberg.
Seite 451, 456, 465. Wetzlar.
Wilhelm Herbst: Goethe in Wetzlar 1772. Verlag von
Perthes in Gotha 1891.
Vgl. Seite 45. Wohnung Goethes in Wetzlar.
Seite 46. Großtante Lange geb. Lindheimer, ihr Sohn
Hofrat Dietz.
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Seite 86. Johannette Elisabeth Christine Lange, geb.
30. März 1755.
Seite 97. Familie Buff.
Seite 104. Charlotte Sophie Henriette Buff, geb. 11.
Januar 1753.
Seite 109. Goethe und Lotte.
Fritz Stahl. Wie sah Goethe aus? Verlag von Georg
Reimer. Berlin. 1905. Nr. 17. Miniaturölgemälde vom
Jahre 1811 (62. Lebensjahr). Von Karl Joseph Raabe.
Im Besitz des Sanitätsrates Dr. med. Vulpius in Weimar.
Nach dem Goethe-Jahrbuch XI.
Vgl. Text Seite 41 . . . Raab es Miniaturportrait vom
Jahre 1811 (Tafel 17), das von Götter als „zum Sprechen
ähnlich" beglaubigt worden ist, und das man übrigens
nur neben Kügelgens zu halten braucht, um zu erkennen,
daß seine Linien der Natur nachgezogen sind.
Tafel 24 Ölgemälde vom Jahre 1826 (78. Lebensjahr).
Von Joh. Jos. Schmeller. Im Goethehaus in Frankfurt
a. M.
Vgl. Text Seite 49. „Schmellers sachliches und
vornehmes Porträt (Tafel 24) zeigt uns den völlig zum
Greise Gewordenen, trotzdem ihm der Maler wohl noch
einige Falten und Runzeln erlassen hat“.
Dieses Bild zeigt die Ähnlichkeit mit dem der Groß-
mutter geb. Lindheimer sehr deutlich.
Tafel 27. Zeichnung vom Jahre 1831 — 1832 (82.-83.
Lebensjahr). Von Karl Aug. Schwerdtgeburth. Im Großh.
Museum in Weimar.
Text Seite 53. Es war vorher gesagt worden, daß die
Greisenbildnisse Goethes eine fortschreitende Vergeistigung
zeigen. Die letzte Phase dieser Wandlung zeigt uns die
Zeichnung von Schwerdtgeburth aus dem Jahre 1832
(Tafel 27).
Heinrich Düntzer: Goethes Stammbäume. Eine genealo-
gische Darstellung. Gotha, bei F. A. Perthes 1884. Vgl.
besonders Seite 10, 13, 14, 15, 16, 18 , 43, 45, 46, 49, 55
(Bildnis der Frau Textor geb. Lindheimer), 84 (Vererbung
von Anlagen, Genie).
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Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
von
Dr. med. et phil. Robert Sommer,
Professor an der Universität Gießen.
gr. 8“. VI und 232 Seiten. Mit 16 Abbildungen und 2 Tabellen.
1907.
Brosch. M. 9.—. Geb. M. 10. — .
Münchner Allgemeine Zeitung: Das Buch ist besonders nach zwei
Richtungen hin bedeutsam und wertvoll, erstens filr die Erkenntnis der
Vererbungsprobleme im allgemeinen und zweitens für die Verwertung
eines besonderen seltenen Falles zur Erforschung des geheimnisvollen,
komplizierten und schwer zugänglichen Vererbungswesens. Die allgemeinen
Erörterungen, die nach des Verfassers Plan eigentlich bloß eine Einleitung
zu der dargelegten Familiengeschichte bilden sollten, sind so reich an
trefflichen Gedanken und sehr wichtigen neuen Gesichtspunkten, nament-
lich für die Vererbungslehre, daß schon um dieser Erörterungen willen
das Buch die größte Beachtung verdient. Oberhaupt ist die ganze Tendenz
des Buches neben der rein theoretischen Erkenntnis auch auf die praktische
soziale Gestaltung des Lebens gerichtet.
Archiv für Kriminalanthropologie: Was Rob. Sommer schreibt, ist
zum mindesten immer originell und anregend.
Zentralblatt für Nervenheilkunde: Das interessante Buch, das
sich an weitere Kreise, nicht nur an Psychiater wendet, bringt in 16 Kapiteln
eine Erörterung wichtiger Fragen aus dem Gebiete der differentiellen
Psychologie und Psychopathologie, der Genealogie, der Lehre von der
Vererbung und Entartung; es enthält weiterhin gewissermaßen als Kern
die Geschichte einer bürgerlichen Familie (Soldan) vom 14.— 20. Jahr-
hundert. Der Verfasser weist ein wandsfrei nach, daß nur die Ahnentafel, nicht
der Stammbaum, einen Einblick in das gewähren kann, was einer von seinen
Vorfahren erlebt hat; zur Erkenntnis der Vererbungstatsachen innerhalb
der Familie bedarf es der Untersuchung der Stammbäume (Deszendenz
bestimmter Vorelternpaare) und der Ahnenreihe (Aszendenz) bestimmter
Personen; so erhält man ein System der Blutsverwandtschaft.
Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie: Der Inhalt kristalli-
siert sich als Einleitung und Einführung in die Fragen menschlicher Ver-
erbung und als Schlußfolgerungen aus gestellten Problemen um die Ge-
schichte einer bürgerlichen Familie, in der an einer Reihe von öffentlich
hervortretenden Mitgliedern ähnliche seelische Anlagen auch unter
wechselnden äußeren Einflüssen nachgewiesen werden können.
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